Leseprobe Teil 2 von 2: „Harko und das tote Mädchen am Strand“

Manousos warf mir einen Blick zu, den ich nicht zu deuten vermochte. „Ich habe nicht gesagt, hier im Raum sitzt ein Killer. Ich habe nur gesagt, ich traue jedem hier einen Mord zu.“ Er wurde nachdenklich. „Du glaubst, wir hassen die Albaner, weil sie Essen und andere Kleinigkeiten stehlen? Mir haben sie einmal das Fleisch vom Grill gestohlen, während ich hungrig vor meinem leeren Teller saß. Das war ärgerlich, doch ich fand es eher lustig. Wer nichts zu beißen hat, muss sehen, wie er über die Runden kommt.“ Er deutete in Richtung Norden. „Du weißt, wo wir beide wohnen?“

Natürlich wusste ich das. Manousos und ich sind Nachbarn, zwei Häuser außerhalb des Ortskerns, einsam, aber idyllisch gelegen.

„Vor 30 Jahren,“ sagte Manousos, „da war unsere Gegend verrufen. Dort wohnen Geister, sagte mir mein Großvater mehr als einmal. Denn nachts waren oft seltsame Geräusche zu hören. Doch das waren keine Geister, sondern Griechen, die ihren Nachbarn Hühner aus den Ställen klauten. Nicht aus Spaß, sondern weil sie hungrig waren. Wenn die Albaner heute irgendwo ein Huhn mitgehen lassen und es in den Kochtopf befördern, lachen wir darüber – weil uns das an unsere eigene Vergangenheit erinnert und weil wir froh sind, jeden Tag genug zum Essen zu haben. Es geht uns gut – besser als unseren Vätern, viel besser als unseren Großvätern und ganz sicher sehr viel besser als den Albanern. Nein, wir hassen die Albaner aus ganz anderen Gründen.“

Er trank einen Schluck Bier, bevor er fortfuhr. „Als Albanien noch hinter dem eisernen Vorhang lag, kamen immer wieder organisierte Banden nach Korfu. Über das Meer sind es nur ein paar Kilometer. Diese Banden unternahmen regelrechte Raubzüge: Sie stahlen Boote, überfielen Häuser.“ Er lachte. „Spiros, der das Hole in the Wall betreibt, haben sie einmal das Boot gestohlen, während er mit einer Urlauberin in der Kabine zugange war. Als sie ihre Nummer beendet hatten, war das Boot schon fast in Albanien. Spiros hat die Leine gekappt und ist wieder zurückgefahren, diesmal, ohne dass die Diebe etwas davon merkten. Seitdem hasst er die Albaner. Und er ist nur einer von vielen. Wir haben nur wenig Polizei auf Korfu und wir brauchen auch nicht mehr – wir regeln die Dinge selbst. Die Polizei sagte uns: Wenn wir eine Leiche finden, müssen wir einschreiten. Also fanden sie keine Leichen in den Orten. Nur manchmal einen toten Albaner, der sich in einem Fischernetz verfangen hatte. Als Peroulades mehrmals hintereinander überfallen wurde, hingen eines Tages zwei albanische Banditen tot in einem Olivenbaum. Danach gab es keine Überfälle mehr. Korfu ist eine friedliche Insel und das soll auch so bleiben.“
„Hast Du auch…“ fragte ich beklommen.
Manousos verneinte. „Ich war nicht dabei, ich weiß nur von solchen Dingen. Doch unter meinem Bett liegt immer ein geladenes Gewehr. Und das ist hier so in vielen Häusern.“

Das musste ich erst einmal verdauen. Mein kleines Paradies, voll mit potentiellen Lynchmördern? Ich übersetzte für Harko und sofort diskutierten wir genauso laut und genauso heftig wie die anderen in der Taverne.

Nur am Rande registrierte ich das Klingeln des Telefons hinter der Theke, sah aus den Augenwinkeln, wie Kostas, der Wirt des Three Brothers, an den Apparat ging. Das Gespräch war kurz, doch als er den Hörer aus der Hand legte, hob er die Hände und rief laut: „Ruhe!“

Schlagartig wurde es still im Raum.

„Das war die Polizei in Karousades. Jannis hat heute Abend versucht, sich in seiner Zelle zu erhängen.“
„Ist das Schwein tot?“ fragte einer. „Nein,“ antwortete Kostas, „er lebt.“
 „Schade.“

Manousos sah mich triumphierend an. „Was habe ich Dir gesagt?“