Szene in Stuttgart

„Scheiß auf die Polizei,“ sagte er prustend, „im nächsten Leben werde ich Schriftsteller. Ein Buch voll mit Adressen hübscher Miezen und wenn ich in den Puff will, sage ich, ich muss recherchieren.“

„Gnagnagna“ war alles, was mir dazu einfiel. Wortlos trank ich meinen Kaffee.

„Ich bin da gestern auf etwas Interessantes gestoßen,“ sagte ich nach einer Weile.

„Hat es etwas mit weiblicher Anatomie zu tun?“ fragte Schorsch neugierig.

„Nein, hat es nicht,“ entgegnete ich. „Mit der deutschen Vergangenheit. Genauer gesagt, mit dem Dritten Reich. Oder noch genauer: Wie es dazu gekommen ist.“

Martin sah mich misstrauisch an. „Darüber hast Du Dich mit der Nutte unterhalten?“

„Unter anderem,“ bestätigte ich. „Sie wies mich auf einige interessante Parallelen zwischen dieser Zeit und der heutigen Situation im Osten hin. Darüber möchte ich mehr wissen.“

„Wir haben keine historische Abteilung,“ sagte Martin. „Wir befassen uns mehr mit zeitgenössischen Problemen. Drogen und so. Die gab es im Dritten Reich noch nicht, da waren die Leute auch ohne Rauschgift durchgeknallt.“

„Aber wir haben ein wandelndes Lexikon,“ sagte Schorsch. „Frag Peter – der kennt sich in Geschichte bestens aus.“

Die Beiden standen auf und gingen zur Tür. „Schriftsteller müsste man sein,“ sagte Schorsch mit sehnsüchtiger Stimme. „Den ganzen Tag tun, wozu man Lust hat.“ Martin warf mir einen bösen Blick zu, in dem seine ganze Verachtung für mich lag.

Oh nein, dachte ich, Ermittler ist an mir keiner verloren gegangen. Als die Zwei draußen waren, rief ich mir die letzten Tage noch einmal in Erinnerung. War es wirklich falsch, was ich jetzt tat? Harko und ich waren hierhergekommen, um mehr über Rudi und seine Probleme herauszufinden. Mein Besuch im LKA sollte nur dazu dienen, die Akten einzusehen. Das hatten wir geschafft. Anschließend wollten wir uns um Rudis Vergangenheit kümmern. Wir, nicht Harko. Und nun?

Jeder Krimiautor wäre dankbar für das, was Du hier erleben darfst, sagte meine innere Stimme. Du hast nichts weiter zu tun, als unter dem Segen des Leiters der LKA alles zu fragen, was Dich interessiert und was Du für Deine Krimis gebrauchen kannst.

Ich möchte mehr über Rudi erfahren, widersprach ich, doch ich darf hier nicht einmal seinen Namen erwähnen.

Und? fragte mein kleiner Mann im Ohr. Ist das so schlimm? Du weißt genau, was dabei herauskommen würde. Nichts. Rudi hat Mist gebaut und ist deshalb ins Gefängnis gekommen. Der Staatsanwalt mag ein Schwein, ein Dreckschwein, sogar eine richtige Drecksau sein. Bislang aber hast Du noch nicht einmal den Hauch einer kriminellen Machenschaft entdeckt. Mach Dir doch nichts vor: Harko ist auf einem privaten Rachefeldzug und das einzige, was Du wirklich tun kannst, ist, dafür zu sorgen, dass er sich dabei nicht in ernste Schwierigkeiten bringt.

Wir wollten gemeinsam ermitteln! sagte ich mir selbst. Darauf habe ich mich gefreut.

Armer Roberto, antwortete mein Alter Ego, Harko vergnügt sich und Du leidest. Er darf sich den ganzen Abend mit seinem Erzfeind herumschlagen, während Du Dich bei einer attraktiven jungen Dame langweilst.

Ich hasse es, wenn meine innere Stimme sarkastisch wird.

Was willst Du denn jetzt tun? fragte sie nun. Nach Rudi darfst Du nicht fragen, nach Mittler solltest Du nicht fragen, und Dein Interesse an der Polizeiarbeit scheint nach drei Tagen vollauf befriedigt zu sein.

Ich weiß, gestand ich vor mir selbst ein. Und sagte meiner inneren Stimme: Ich könnte den alten Mann in der neutralen Zone aufsuchen. Der könnte mir was über Mittler und das Dritte Reich sagen.

Bis zu diesem Moment hatte ich nicht gewusst, dass der kleine Mann im Ohr so herzhaft lachen konnte.

Gib´s doch zu, sagte er, der alte Mann ist Dir vollkommen gleichgültig. Es geht um das Mädchen. Nur wegen ihr möchtest Du mehr über das Dritte Reich wissen. Du bist neugierig, warum sie sich so dafür interessiert.

Kann schon sein, gab ich zu. Doch es ist nicht richtig, wenn ich damit meine Zeit vergeude. Ich sollte Rudi helfen.

Du musst eure Tarnung aufrecht erhalten, erinnerte mich mein zweites Ich. Das allein ist wichtig. Wie Du das tust, ist Deine Sache. Findest Du nicht?

Mich selbst zu belügen, fiel mir immer schon schwer, das wusste mein zweites Ich ganz genau. Ich schob meine Schuldgefühle nebst aller Gedanken an Rudi und den Staatsanwalt zur Seite, dachte an Heide und ging zu Peter. Der saß in seinem Büro und las Zeitung.

Siehst Du, neckte mich mein Ego, der hat kein schlechtes Gewissen, wenn er nicht ununterbrochen auf Verbrecherjagd ist.

Ich glaube, das gab den Ausschlag.

„Darf ich Dich kurz stören?“

„Immer,“ sagte Peter und faltete seine Zeitung zusammen. „Was hast Du auf dem Herzen?“

Ich sagte ihm, jedenfalls in groben Zügen, was ich bei Heide erlebt hatte und dass ich mehr über die Entwicklungen wissen wollte, die zum Dritten Reich geführt hatten. Um die Sache in seinen Augen glaubwürdiger zu machen, fügte ich hinzu, ich würde mich natürlich in erster Linie für die Vorgänge hier in Stuttgart interessieren.

„Ich fürchte,“ sagte Peter, „da hast Du Dir die falsche Stadt ausgesucht. In Stuttgart war so gut wie gar nichts los. Hitler mochte Stuttgart nicht.“

„Gab es dafür einen Grund?“

Peter schmunzelte. „Den gab es. Hitler war ein großer Redner und er hat natürlich auch in Stuttgart eine Rede gehalten. Aber nur eine einzige. Irgend ein Scherzbold hackte das Kabel zwischen Mikrofon und Lautsprecher durch, so dass ihn nur wenige verstehen konnten. Der Schuldige wurde nie gefunden, doch Hitler war so wütend, dass er von da an einen großen Bogen um Stuttgart machte. Was, im nachhinein betrachtet, auch gut war.“

„Dann gab es in Stuttgart keine Nazis?“

„Natürlich gab es die. Hitlers Machtergreifung in Deutschland war total. Allewichtigen Positionen waren mit Parteimitgliedern besetzt. Nur waren die meisten Stuttgarter keine glühenden Anhänger des Dritten Reichs. Man kocht hier gern sein eigenes Süppchen, legt mehr Wert auf Ergebnisse und saubere Arbeit als auf Demonstrationen. Und man schätzt Recht und Ordnung. Vielleicht erscheint Dir Stuttgart prüde…“ Er grinste. „Obwohl ich glaube, dass Du Stuttgart gestern von einer anderen Seite erlebt hast…“

Das hatte sich schnell herumgesprochen.

„Ich wollte mit Dir nicht über das Liebesleben der Stuttgarter sprechen, sondern über das Dritte Reich,“ wies ich ihn zurecht.

Peter hüstelte. „Wie gesagt, darüber gibt es nicht viel zu sagen. Wir hatten kein KZ hier, nur eine zentrale Hinrichtungsstätte im Lichthof des alten Justizgebäudes, in dem von 1933 bis 1944 fast 500 Menschen getötet wurden, die meisten durch das Fallbeil.“

„Ganz schön grausam, diese Nazis!“

„Täusch Dich nicht,“ sagte Peter, „diese Hinrichtungsstätte wurde nicht von den Nazis eingerichtet, die gab es schon zu Zeiten der Weimarer Republik. Von den Nazis stammt nur der Erschießungsplatz am Dornhaldenfriedhof.“

„Ein Erschießungsplatz? Für Juden?“

„Nein, die wurden in die KZs transportiert. Erschossen wurden Straftäter, politisch Andersdenkende – am Ende auch jeder, der nicht an den Endsieg glaubte.“

Was war aus Hitlers Idealen geworden? War ihm die Neuorganisation Deutschlands aus dem Ruder gelaufen? Hatte er geglaubt, die Zukunft nur mit Gewalt durchsetzen zu können? Waren am Ende gar korrupte Politiker das kleinere Übel für eine Nation?

„Wenn Du willst, können Dir Martin und Schorsch den Dornhaldenfriedhof zeigen – er ist nicht weit von hier. Nur fürchte ich, wirst Du da nicht viel sehen.“

Peter rief Martin an, der hatte Zeit und so fuhren wir zu dritt hin: Martin noch immer ablehnend, Schorsch nach wie vor sehr vergnügt ob meines Abenteuers der vergangen Nacht und ich neugierig.

„Hat Dir Peter gesagt, dass auch drei der Top-Terroristen auf dem Dornhaldenfriedhof begraben sind?“ fragte Schorsch.

„Nein, das hat er wohl vergessen.“

„Du solltest Dir wenigstens das Grab ansehen: Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe sind da 1977 nach ihren sogenannten Selbstmorden beigesetzt worden.“

„Du sagst sogenannt: Glaubst Du es nicht?“ Ich wurde hellhörig.

Schorsch wollte etwas sagen, doch Martin unterbrach ihn schroff. „Damals ist viel spekuliert worden, das offizielle Ergebnis war jedoch eindeutig: Die drei und Ulrike Meinhoff haben sich selbst gerichtet. Lass es gut sein damit, ja?“

Als wir ankamen, musste ich Peter recht geben: Viel zu sehen gab es nicht. Ein parkähnlich angelegter Friedhof, ein ruhiger Fleck, um begraben zu sein oder verstorbene Angehörige zu besuchen, aber sicher der falsche Ort, um hier zu sterben. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es damals zugegangen war, als Menschen hierhergeführt und erschossen wurden, doch mir kamen immer wieder die Bilder der Erschießungen in den Kopf, die ich wenige Tage zuvor im Fernsehen gesehen hatte. Die passten nicht zu diesem Park.

Schorsch führte mich zum Grab der Terroristen. Eine graue Bodenplatte, einige immergrüne Büsche, dazwischen eine einzelne rote Rose: Mehr war von der berüchtigtsten Terrorbande Deutschlands nicht übriggeblieben.

Das Klingeln von Martins Mobiltelefon störte die Stille des Friedhofs. Martin meldete sich, hörte eine Weile zu und sagte dann: „Wir kommen.“

 

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