Leseprobe Band 3 Szene im Xenichtis (aus Band III Harko und der Kunstprofessor)
Um neun verabschiedeten wir uns von Alex. Ich wollte nach Hause, doch Harko hatte andere Pläne.
„Wenn morgen der Artikel erscheint,“ sagte er, „ist in Afionas die Hölle los. Mich würde brennend interessieren, was die Menschen jetzt über den Tod des Professors denken. Lass uns ins Three Brothers fahren.“
„Das mit dem Three Brothers ist keine gute Idee. Kostas, der Wirt, ist derzeit in den USA, das Three Brothers ist über den Winter geschlossen.“
„Wo sitzen die Afioniten dann? Du wirst mir doch nicht erzählen wollen, sie bleiben jetzt zu Hause?“
Das taten sie natürlich nicht. „Das Xenichtis ist jetzt die absolute In-Kneipe.“
„Das Xenichtis? Noch nie davon gehört.“
„Wart´s ab,“ sagte ich, „es wird Dir gefallen.“
Afionas hatte fünf Tavernen, von denen allerdings zwei nur im Sommer geöffnet waren. Der Ausfall des Three Brothers hätte folglich dazu führen müssen, dass eine der beiden anderen auch im Winter geöffneten Tavernen zur neuen Stammkneipe auserkoren wurde, was aber nicht der Fall war. Einer der Wirte der möglichen Ersatztavernen sah sein Lokal in erster Linie als Restaurant, doch die Kneipengänger aßen zu Hause und wollten in der Taverne nur in Ruhe ein Bier trinken. Der andere Wirt war ein Zugereister, der die Afioniten nicht mochte, was zur Folge hatte, dass die Afioniten auch für ihn nicht viel übrig hatten.
Die daraus resultierende bedrohliche Lücke im afionitischen Nachtleben wurde jedoch schnell geschlossen. Konelis Handrous, gebürtiger Afionite, aber lange in den USA lebend, war im Sommer nach Afionas zurückgekehrt und hatte das bislang nur von einigen alten – eher von einigen uralten – Dorfbewohnern frequentierte Kafenion (1) seiner Eltern in eine Kneipe umfunktioniert.
Das imposante Gebäude bestand aus vier windschiefen Wänden, einem uralten Dach und einer außenliegenden Toilette, die man besser nur im absoluten Notfall benutzte – die Olivenbäume der Umgebung boten bessere Möglichkeiten, sich nach zu reichlichem Biergenuss Erleichterung zu verschaffen. Die Luxuseinrichtung des Xenichtis umfasste zwei Bänke, einen alten Tisch, eine noch viel ältere Theke und einige Stühle, für die sich nicht einmal auf einem Flohmarkt ein Käufer gefunden hätte – außer vielleicht Alex, als Ergänzung zu seinem wackeligen Tisch.
Jeder Marketing-Experte hätte dem Xenichtis einen katastrophalen Start vorhergesagt, zumal alle potentiellen Konkurrenten über komfortabel eingerichtete Gasträume verfügten. Doch seit wann haben Experten Ahnung von den wirklich wichtigen Dingen im Leben?
Das Xenichtis hatte einen furiosen Geschäftsstart hingelegt und wurde täglich populärer: Es war jeden Abend zum Bersten voll. Denn es hatte eine Eigenschaft im Überfluss: Es war urgemütlich.
Als wir eintraten – Parkplätze gab es nicht, man stellte seinen Wagen auf der Straße ab, so man einen Platz fand –, saßen ein Dutzend Gäste dichtgedrängt auf den schlichten Holzbänken. Auf dem Tisch standen zahlreiche Flaschen Bier, einige mit Inhalt, die meisten leer. Obwohl es tagsüber noch mild war, ging man im Xenichtis bereits auf Nummer sicher: Vor der hinteren Wand des Schankraums, der zugleich Eingangshalle, Lagerraum, Fernsehstube und Büro war, bullerte ein Ofen.
Manousos selbst hatte ihn installiert: Mit Hammer und Meißel hatte er ein Loch in die Wand geschlagen, den Ofen samt Ofenrohr aufgestellt und das Loch in der Wand rund um das Ofenrohr wieder verputzt – jedenfalls notdürftig.
Konelis hatte einen Fernseher mit Satellitenempfang aufgestellt. Den ganzen Abend liefen Spielfilme, denen aber niemand Beachtung schenkte. Interessant wurde es erst nach Mitternacht. Frauen war der Zutritt zum Xenichtis, was soviel bedeutet wie „Die ganze Nacht“, nicht direkt verboten, doch sie fühlten sich in der schmuddelig-schlichten Atmosphäre nicht wohl. Weshalb es auch strengstens verboten war, die schmuddelig-schlichte Atmosphäre zu verändern und beispielsweise eine Putzaktion zu starten. Denn genau diese Abwesenheit ihrer besseren Hälften erlaubte es den Männern, zu später Stunde eine besondere Art von Filmen zu sehen, in denen die meisten Rollen mit Frauen besetzt waren, die eine Aversion gegen zuviel Kleidung am Leib hatten.
Harko war sofort hin und weg. „Das ist keine Kneipe,“ sagte er begeistert, „das ist ein Vereinsheim.“ Was den Charakter des Xenichtis vielleicht am besten beschrieb.
Wir saßen kaum, als uns Konelis schon zwei Flaschen Bier brachte: Bulldozer-Nick prostete uns zu, die Runde ging auf ihn. Neben dem Ofen stand ein großer Sack mit Esskastanien, einer der Anwesenden legte in regelmäßigen Abständen neue Früchte auf den Ofen und reichte die heißen Maronen zum Tisch, wo sie schnell dankbare Abnehmer fanden.
Viele Biere und ein Kilo Maronen später hatte Harko seine Eindrücke vom Tod des Professors beisammen. Seiner Kunst stand man weiterhin ablehnend gegenüber, sein Dahinscheiden dagegen wurde bedauert: 70 Jahre seien viel zu früh, um dem Leben adieu zu sagen, und wenn die diversen Kunstaktivitäten des Professor auch auf wenig Gegenliebe gestoßen waren, so hatten sie doch für Kurzweil gesorgt. An einen Selbstmord mochte keiner glauben, dazu sei der alte Herr viel zu rüstig und lebenslustig gewesen, von einem möglichen Mord war keine Rede: Er hätte sich eben nicht an einem drei Meter großen Koloss versuchen, sondern kleinere Kunstwerke produzieren sollen – die wären ihm nicht auf den Kopf, sondern allenfalls auf den Fuß gefallen.
Wer uns an diesem Abend wieviele Biere spendiert hatte, ließ sich bei unserem Abschied nicht mehr feststellen; Konelis führte darüber nicht Buch und weigerte sich, Geld von uns anzunehmen.
„Morgen kommen wir wieder her,“ sagte Harko mit einem zufriedenen Ausdruck im Gesicht, als wir im Wagen saßen.
„Wegen dem Bier, den Kastanien oder den Ermittlungen?“ fragte ich, während ich den Wagen startete.
„Natürlich wegen der Ermittlungen!“ sagte Harko mit gespielter Entrüstung. „Oder denkst Du, nur zum Vergnügen?“
„Den Verdacht hegte ich in der Tat,“ sagte ich lachend und fuhr los.
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(1) Griechisches Café